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Der Loeffel der Hesinde

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Die ältere Dame sah Lissa über den abgenutzten Tisch an. Ihre Gesichtszüge schienen schon vor Jahren in einer ernsten Maske erstarrt zu sein, aber ihre grauen Augen verrieten allerlei Gedankensprünge. „Nur damit ich euch richtig verstehe, ihr sucht was genau für ein Artefakt?“
Die Hesindegeweihte setzte ein sanftes Lächeln auf und erwiderte: „Der Löffel der Hesinde ist ein schon lange verschollenes Artefakt. Ich habe Aufzeichnungen gefunden, die zurückreichen bis vor zwei hundert Götterläufen. Anschließend wurde es nie wieder erwähnt, was wohl am Archivbrand von-“
„Bitte nur die Kurzfassung“, unterbrach Gylduria Deraccini sie.
Lissa atmete tief ein und erklärte dann weiter: „Jener Löffel soll ein mächtiges Artefakt gewesen sein, das es einem erlaubt durch Benutzung neue Weisheit zu erlangen.“
Gylduria strich mit ihren knochigen Fingern durch das graue Haar: „Warum soll es ausgerechnet ein Löffel sein? Das klingt mir doch sehr nach einem Scherz, ihr kennt sicher die Redewendung, wenn jemand-“
„Ja, die kenne ich“, warf Lissa schnell ein. „Aber es könnte sein, dass die Redewendung auf eben diesen Löffel zurück geht. Ihr wisst doch, dass alle Phrasen und Redewendungen einen wahren Kern haben.“
Die Dame bedachte Lissa mit einem langen Blick. Nur zu klar erkannte die Geweihte das übliche Bild in ihren Augen. Immer wieder wurde sie dank ihrem Äußeren für naiv gehalten. Warum nur? Waren die blonden, schulterlangen Haare daran Schuld? Oder lag es eher daran, dass sie sich bei ihren Ausführungen doch manchmal unsicher vorkam? Es war in jedem Fall mehr als nur unangenehm. Selbst ihre Kirche hatte ihr nach ihren Erläuterungen im Grunde nur die Reise bezahlt.
Nervös strich sie über ihren schlangenförmigen Halsreif. Sie rechnete schon fast mit einer fadenscheinigen Ablehnung, als Gylduria ihre Maske zu einem Lächeln verbog.
„Gut, ich denke, ich habe für eure wichtige Suche genau den passenden Begleiter. Ein echter Ritter und edel in Wort und Tat. Ich bin mir sicher, er wird euch mit seinem Leben beschützen.“
Irgendetwas kam ihr falsch daran vor, dennoch war sie ja gerade für Unterstützung hergekommen. Freundlich erwiderte sie: „Ich danke euch vielmals, mir gleich einen Ritter mit auf den Weg zu senden.“
Das verzogene Lächeln verlor langsam den Halt und verschwand wieder unter der ernsten Miene, während Gylduria erklärte: „Antonius wird deswegen zwar ein Treffen mit den Silbertalern versäumen, aber der Fund eines solchen Artefaktes ist sicher wichtig und bedarf sofortiger Untersuchung. Ich werde mich um alles kümmern. Schon morgen früh könnt ihr aufbrechen.“
Lissa nickte dankbar und Gylduria entließ sie mit einem Handzeichen. Die Geweihte hoffte, dass sie keinen Fehler gemacht hatte. Gleich einen Ritter mit zu bekommen war alles andere als üblich, immerhin erwartete sie keine übermäßigen Gefahren, sondern nur eine Ruine, bei deren Erkundung etwas Hilfe gut wäre.
„Das klärt sich bestimmt alles morgen“, murmelte sie zu sich selbst, während sie in Gedanken durch das Haus ging. „Bestimmt wird er sich irgendwie als nützlich erweisen, immerhin ist er ein Ritter.“
In ihrem Gästezimmer widmete sie sich ihren Aufzeichnungen und ergänzte ihr Buch der Schlange, wobei sie jede Notiz beim Schreiben mitsprach und manchmal auch kommentierte.

Der Morgen fing schon gut an, als sie statt eines warmen Bettes hartes Holz unter sich spürte. Schnell schlug sie die Augen auf und sah sich um. Diesmal hatte sie sich anscheinend auf einen großen Tisch in der Küche gelegt.
„Oh nein nein nein!“, jammerte sie kurz und setzte sich auf. Aus den Augenwinkeln sah sie noch den Zipfel eines Bedienstetengewandes. „Oh nein!“ Sie sprang schnell vom Tisch und betrachtete sich. Keine Verletzungen, das war gut. Aber ihre Hände waren schwarz von Ruß, ebenso wie ihr Nachthemd schwarz gesprenkelt war. Sie klopfte sich grob ab, mit dem Ergebnis, den Ruß weiter zu verteilen. „So ein Mist“, knurrte sie. „Ich weiß wirklich nicht, womit ich das verdient habe.“
Lissa irrte im Haus umher auf der Suche nach ihrem Zimmer. „Wahrscheinlich bin ich schon längst Gesprächsthema im ganzen Haus!“
Endlich angekommen dauerte es kaum einige Augeblicke, als ein zaghaftes Klopfen ertönte und ein Dienstmädchen darauf hinwies, dass das Frühstück bereitet sei. Lissa zog sich schnell etwas über und versuchte sich einigermaßen sauber zu waschen. Glücklicherweise war die Seife recht gut. Dann frühstückte sie mit der Hoffnung, dass der Vorfall nicht weiter diskutiert werden würde.
Nach einigen schweren Schritten wurde die Tür geöffnet und kurz darauf sprach eine kräftige Männerstimme: „Ihr müsst Lissa sein. Ich freue mich, euch kennenlernen zu dürfen.“ Die Geweihte sah auf. An ihrem Tisch kam ein Ritter, wie er in Sagen typisch war. Auf einem kräftigen Körper thronte ein Kopf, mit dem man Wände hätte einreißen können. Das Gesicht war kantig und die Augen wurden von dichten Augenbrauen umrahmt. Sie nickte ihm freundlich, wenn auch etwas unsicher zu: „Ihr liegt richtig. Demnach müsst ihr Antonius sein?“
„Eben der“, nickte der Mann und gab ihr mit seiner kräftigen Pranke einen ehrlichen, festen Handschlag, eher er sich zu ihr setzte.
„Ich sehe schon, ihr seid gut in Form.“ Lissa knetete unauffällig die Hand unter dem Tisch.
„Ich trainiere jeden Tag, um mich weiter mit den anderen Rittern messen zu können. Mit meinem Status ist es nicht leicht einen einigermaßen sicheren Platz zu finden.“
„Eurem Status?“, fragte Lissa verwundert.
„Ich bin ein Bastard. Schwer zu glauben, aber wahr. Gylduria ist meine Mutter, meinen Vater kenne ich nicht, aber mein Stiefvater hat dafür gesorgt, dass ich zumindest einen Stand habe. Daher bin ich auch kein Deraccini, sondern werde Taubenschwinge genannt.“
Fleißig schaufelte der große Mann sein großzügiges Frühstück in den Mund.
„Nun, zumindest kann ich mir sicher sein mit euch an meiner Seite nicht überfallen zu werden“, erklärte Lissa mit einem dankbaren Lächeln.
„So gefährlich ist es hier nicht einmal, aber natürlich ist eure Mission wichtig. Nur schade, dass ich das Treffen heute Abend verpassen werde.“
„Ihr klingt nicht gerade traurig deswegen“, stellte Lissa fest.
„Ich vermute, Mutter brauchte einen Grund mich von der größeren Politik fern zu halten. Sie meint, ich wäre nicht für die Politik geschaffen“, erklärte Antonius zwischen zwei großen Bissen. „Aber das macht nichts, ich interessiere mich nicht großartig dafür.“
Lissa nickte nur bedächtig. Die politischen Gefüge zwischen verschiedenen Familien waren auch ihr noch immer rätselhaft. So viele unklare, längst vergangene Fehden und Intrigen, da war es schwer die Wahrheit zu finden. Zumal einige Familien die Wahrheit gar nicht wissen wollten.
„Ich bin soweit und warte dann vor dem Stall auf euch“, erklärte der Ritter und holte sie damit aus ihrem kurzen Gedankengang. Lissa nickte nur und packte ihre Sachen zusammen. Besser sie ging früh, das Schlafwandeln war ihr immer noch peinlich.

Immer wieder sah Lissa sich ihren Begleiter an. Oder besser, sah an ihm auf. Antonius hatte sich auf ein großes Streitross geschwungen, an dem nicht nur Verpflegung und Ausrüstung, sondern auch einige Rüstungsteile für ein Turnier hingen. Ihr kleines Pony trabte munter, neben dem hohen Pferd her und wollte sich auf keinen Fall abhängen lassen. Erst als sie die Vorstadt Agreppara passiert hatten, rang Lissa sich endlich dazu durch ihren Begleiter zu fragen: „Wisst ihr, die schwere Turnierrüstung wäre vielleicht nicht nötig gewesen.“
Der Ritter sah Lissa von oben herab an. Ihm blieb bei der Größe seines Pferdes kaum etwas anderes übrig. „Ich besitze nicht gerade viel. Ein weiteres Pferd könnte ich kaum versorgen, außerdem ist es nicht meine gesamte Ausrüstung, aber genug, um den meisten Problemen und Gelegenheiten zu begegnen. Was nützt mir eine Rüstung, in meinem Grab?“
Lissa dachte einen Moment darüber nach. „Was nützt euch eine Rüstung, die eure Flucht behindert?“
Antonius lächelte breit: „Was nützt euch euer Wissen, wenn ihr es später nicht weiter geben könnt. Dafür habt ihr doch immer euer Buch dabei, oder nicht?“
Irritiert von der Wendung blickte Lissa auf die dichte Satteltasche, in der sich ihr Buch der Schlange befand. „Das stimmt, aber ein Buch ist doch ungleich leichter, als eine Rüstung.“
„Ein Pferd ist auch ungleich stärker als ein Pony“, erwiderte Antonius nur. „Aber wo wir schon bei Gewichten sind. Nach was für ein Artefakt suchen wir eigentlich?“
„Gylduria hat es euch nicht erklärt?“ Als Lissa nur ein Kopfschütteln erntete, atmete sie tief ein. „Der Löffel der Hesinde ist ein recht altes, verlorenes Artefakt, das dem Benutzer ein ungeahntes Wissen zuteil werden lässt. Die Geschichten berichten von einer Beron aus Thorwal, dem es danach gelungen sein soll, mit einem Schiff bis zur Klirrfrostwüste zu gelangen und dort die Reste einer Firnelfensippe zu finden, die als verloren galt. Nottel Muntagonus war ein Vorfahre von Rakorium Muntagonus, und hat durch den Löffel Erkenntnisse über den Kult des Namenlosen bekommen und konnte einige Kultstätten zerstören, bis er zu weit ging und solche auch unter den Tempeln in Gareth vermutete.“
„Ist schon gut, er hat also viele Personen inspiriert. Das beruhigt mich, ich hatte schon die Befürchtung, dass es sich um irgendeine grausame Waffe handelt. Ich kann so etwas nicht leiden, es ist einfach unfair.“
Lissa sah den großen Mann tadelnd an. „Wissen ist sehr wohl eine Waffe!“
Dieser drehte sich noch einmal zu ihr und erklärte ernst: „Natürlich ist es das, aber im Kampf schlägt Übung noch immer jedes Waffenwissen. Der Instinkt und die Führung der Klinge, das ist es, was den Sieg bringt.“
„Aber wenn man die Schwachstellen kennt…“, warf Lissa ein.
„Ein guter Krieger sollte seine Schwachstellen selber kennen und an ihnen arbeiten, sonst ist er nicht lange ein guter Krieger. Ich habe schon einige Menschen sterben sehen und ein paar hatten meine Klinge im Leib.“ Damit schien das Gespräch für ihn beendet, denn er starrte auf die Straße vor ihnen.
Lissa dachte darüber nach. „Rondras Lehren sagen etwas Ähnliches und dennoch studieren auch sie gelegentlich in Büchern. Ich weiß nicht, vielleicht muss man in beidem geübt sein? Ich habe ja auch festgestellt, dass ich allein von den Büchern in den Tempeln nicht weiter komme…“
Erst da merkte sie, dass Antonius sich etwas zurückfallen gelassen hatte. Er sah sich zu beiden Seiten um und fragte dann: „Mit wem redet ihr da eigentlich?“
Die Geweihte runzelte die Stirn. „Ich habe wieder geredet?“
„Mit euch selber, ja.“
Sie tippte sich an den Kopf: „Das ist wohl ein kleines Geschenk von meiner reinen Studierzeit. Wenn man den ganzen Tag in einer Bibliothek sitzt, glaubt man sich mit den Büchern zu unterhalten.“
Antonius trieb sein Pferd wieder an. „Ich dachte mir schon immer, dass Bücher verrückt machen. So viele Wörter und Buchstaben passen doch in keinen Kopf.“
Lissa schwieg dazu eine Weile. Erst nach einigen Augenblicken erwiderte sie leise: „Ich bin sehr froh über meine kleine Bibliothek im Kopf. Aber es fehlen noch einige Bücher.“

Sie ritten den Tag über auf der befestigten Straße. Antonius erklärte ihr viel über die örtlichen Leute und Gegebenheiten und fand in Lissa eine aufmerksame Zuhörerin. Einige Bauern und Kinder winkten ihnen fröhlich zu und am Mittag wurden sie freundlich zu einer guten Mahlzeit direkt am Ackerrand eingeladen. Die Knechte freuten sich über die hohe Gesellschaft beim einfachen Essen und weder Lissa noch Antonius hatten etwas gegen den herzhaften Eintopf der Bauern, auch wenn gelegentlich Sand zwischen den Zähnen knirschte.
Nach ein paar weiteren Meilen bogen sie auf einen kleinen Pfad ab, der sie in einen immer dichteren Wald führte.
„Hier müssen wir uns bei Gelegenheit bei den Förstern erkundigen. Diese Wege kenne ich nicht besonders gut“, gestand Antonius.
Vorerst mussten sie sich jedoch auf einer Lichtung einrichten. An diesem Tag würden sie es eh nicht mehr bis zur Ruine schaffen und die Förster wären schon zu Hause.
Nachdem sie ihr Lager aufgestellt hatten und Antonius das Fleisch, das er von seiner Familie als Wegzehrung bekommen hatte, vom Feuer holte, nahm Lissa ihren Mut zusammen. Es würde ja doch herauskommen und besser ihr Begleiter war darauf gefasst: „Ich muss leider gestehen, dass Boron mich des Nachts auf Reisen schickt.“
Antonius brummelte nur: „Und? Im Traum kämpfe ich gegen silberne Ungeheuer.“
Sie zog die Stirn kraus: „Ich meine, dass ich Nachts herum laufe und … was mache.“
Der Ritter schien sie immer noch nicht zu verstehen: „Manchmal muss ich auch Nachts raus.“
Langsam wurde die Hesindegeweihte zornig: „Bei Hesinde! Ich schlafwandle! Ich habe keine Ahnung, was ich in der Zeit mache und wache morgens auf Küchentischen, Bäumen oder sonst wo auf!“
Antonius nagte weiter an seinem Fleisch und antwortete erst nach einer Weile: „Dann binden wir dich halt fest.“
„Das habe ich schon versucht, aber da ich jeden Knoten, den ich kenne, selber lösen kann, ist das auch beim Schlafwandeln kein Problem.“
Wieder schwieg Antonius etwas, während dem Knochen gut hörbar das Mark entzogen wurde.
„Und wenn ich einen Knoten mache, den du nicht kennst?“
Lissa zog die Augenbrauen hoch. „Einen Versuch ist es wert, aber ich habe über die Zeit eine Menge Knoten kennengelernt, da war die Fahrt auf See sehr lehrreich… bis ich des Nachts gefesselt hinter einer doppelt gesicherten Tür verharren musste.“
Antonius warf den restlichen Knochen in die Glut und lächelte nur.
Sie verbrachten noch ein paar Stunden, in denen sie sich dem Schreiben und der Rüstzeugpflege. Auf eine Wache verzichteten sie. Das Wild war scheu in dieser Gegend und Banditen pflegten abgelegenere Wälder. Antonius hatte Lissa ein gutes Hanfseil um die Hüfte geschlungen und so lange fest verknotet, bis sie sicher war, dass sie sich nicht heraus winden konnte. Den Knoten kannte sie tatsächlich nicht. Er sah so verworren aus, dass sie kaum beurteilen mochte, ob es überhaupt ein Knoten war. Mehr als schief gehen konnte es ja eh nicht.
Damit legte sie sich schlafen, in der Hoffnung, dass sie nicht auf dem Wipfel eines Baumes aufwachen würde.

Sie hörte ein ruhiges Atmen neben sich. War das etwa ein wildes Tier? Lissas Herz begann wild zu schlagen. Bitte kein Wolf oder Wildschwein! Vorsichtig fühlte sie neben sich und bemerkte eine haarige Brust. Dazu ein grobes Leinenhemd und einige starke Muskeln, die verschiedene Narben aufwiesen.
„Ein Bandit?“, flüsterte sie leise und fühlte dann, dass sie unter der Decke nackt war.
„Oh nein nein nein!“ Ihr Herz raste förmlich. Es war schon wieder geschehen. Sie rollte sich ein wenig zur Seite, darauf bedacht den Mann nicht zu wecken, wer auch immer es war.
Erst als sie das feste Seil um ihrer Hüfte spürte, wusste sie, was geschehen sein musste.
„Bei Rahja, warum?“, stieß sie laut hervor und wickelte sich in die Decke ein.
„Ich nehme an, dir war kalt“, erwiderte Antonius ruhig und stemmte sich langsam hoch. Lissa sog gerade die Luft ein, um mit hochrotem Kopf irgendetwas zu sagen oder zu schreien, als sie sah, dass Antonius seine Leinenhose noch immer trug.
„Glaub mir, es war schwer genug, es nicht auszunutzen, aber das wäre einfach unehrenhaft gewesen. Sagen wir einfach, diese Nacht ist nie passiert.“ Er zwinkerte ihr einmal verschwörerisch zu, während sie mit der Decke und einem Kopf, der jede spätsommerliche Kirsche in den Schatten gestellt hätte, zu ihren Sachen ging. Sie musste unwillkürlich an die Muskeln und dem starken Körper denken, aber auch an die Narben. Zugleich schossen ihr alle Fragen zugleich in den Sinn. „Ich war wohl nicht attraktiv genug? Boron und Rahja, was sollte das nur wieder? Sendet ihr mir Zeichen, oder habt ihr nur Spaß? Nein, kein Gedanke an seine Hose, auch wenn die Beule da schon beachtlich… Wo habe ich nur meine Sachen gelassen? Dieses verdammte Seil geht auch nicht auf…“
Es dauerte kaum ein paar Augenblicke, bis sie mit ihrer Robe vor den Körper gepresst vor die niedrige Plane trat und zu Antonius ging: „Kannst du mir mal bitte mit dem Seil helfen? Das hat noch nicht so ganz geklappt, wie ich dachte.“
Entgegen ihrer Erwartung, zückte Antonius ein Messer und kam auf sie zu. Sie wich angsterfüllt zurück. „Bei allen Göttern, was habt ihr vor?“
Antonius hob das Messer sofort in abwehrender Haltung und erklärte: „Keine Sorge, ich will nur das Seil abschneiden.“
„Warum löst du den Knoten nicht einfach?“, fragte Lissa verwundert, ließ den Ritter aber näher kommen.
„Weil ich ihn nicht lösen kann. Dieser Knoten ist gorisch und es gibt nur eine Art, mit ihm fertig zu werden.“
Mit einem Mal spürte Lissa das kalte Metall an ihrem Körper, dann einen Ruck. Das Seil fiel von ihr ab.
„Also wegen vergangener Nacht, ich weiß nicht, was Boron oder Rahja sich gedacht hat und…“
Der Ritter steckte das Messer weg und brummelte nur: „Kann mich an nichts erinnern. Hab geschlafen wie ein Stein.“
Lissa atmete tief ein und wollte sich gerade umwenden, als sie noch einmal inne hielt: „Also es ist nicht so, dass du nicht attraktiv wärst, aber wenn ich träume, dann weiß ich nicht, was geschieht und…“
Wiederum erklärte Antonius brummend: „Lass gut sein, ich weiß gar nicht, was passiert ist und dabei bleibt es.“
„Gut, ich warte dann draußen. Also vor dem Zelt… angekleidet. Wie gesagt, du brauchst dir da keine Vorwürfe machen, oder dich für unschön halten, das ist nicht so.“
Antonius seufzte laut auf und drehte sich zu ihr: „Verehrte Lissa. Ich habe keine Probleme und bei Rahja, du bist attraktiv, dass ich gern eine Nacht mit dir verbringen würde, aber nicht auf eine solche Art. Offen oder gar nicht. Deswegen lass es darauf beruhen.“
Lissa hätte gern etwas darauf erwidert, aber ihr fiel kein passender Kommentar ein. Sie schluckte kräftig und nickte dann.

Es dauerte nicht lang und sie verließen die Lichtung wieder mit einem vollen Magen. Bei einer Köhlerhütte hielten sie kurz an. Erst nach einigem Klopfen kam von einem der Haufen ein kleiner Mann. Erst schien dieser misstrauisch seine Besucher zu mustern, aber dann erklärte er freundlich: „Travia zum Gruße, wie kann ich euch helfen? Für ein bisschen Silber könnte ich sicher ein Bettchen für euch frei machen.“
Lissa trat einen Schritt vor und erklärte: „Die Zwölfe zum Gruße. Vielen Dank, aber wir wollten nur fragen, ob es hier irgendwo die Ruine eines Hesindetempels gibt.“
Der Köhler schüttelte nur langsam den Kopf: „Nein, davon weiß ich nichts.“
Lissa ließ schon die Schultern hängen, als der Mann hinzufügte: „Oh, aber es gibt hier durchaus eine Ruine. Mein Großvater hat mir davon erzählt, dass dort ein Köhler gehaust hat. Er war so gierig, dass er einen Pakt mit einem Dämon geschlossen hatte! Der Dämon heizte seinen Ofen, aber dafür opferte der Köhler alle seine Kinder! Eines Nachts dann, als das Feuer zu erlöschen drohte, ging er selbst in den Ofen und das Feuer des Dämons verbrannte ihn und sein ganzes Haus bis auf die Grundmauern!“
Lissa hatte der Erzählung schweigend zugehört. „Ist die Ruine recht groß und liegt direkt an einem Berghang?“
Der Köhler nickte eifrig: „Ohja, aber wie gesagt, das ist sicher kein göttergefälliger Ort.“
„Wir werden dort nach dem Rechten sehen.“, bestimmte Lissa. Die Beschreibung passte, die Geschichte konnte sich entwickelt haben. „Wo ist die Ruine?“
„Folgt einfach diesem Pfad nach Norden, ich habe in der Nähe vor ein paar Monaten gutes Holz geschlagen. Ihr müsst nur bei dem Bach dem Wildpfad auf der anderen Seite folgen.“
Die beiden bedankten sich und Lissa gab ihm den Segen der Zwölfe, ehe sie weiter zogen.
Die Beschreibung war richtig und sie gelangten nach einigen Meilen über Forstwegen und Wildwechsel an eine felsige Stelle, die vom Wald längst umschlossen war. Die Mauerreste waren von braunem Laub bedeckt und ragten kaum einen Schritt noch hervor. Das Unebene Gelände war recht groß, was die Suche nicht gerade erleichtern würde.
„Sieht mir nach einer ziemlich schwierigen Suche aus. Woher soll man denn noch wissen, wo ein Raum gewesen ist?“, fragte Antonius zweifelnd.
„Nachdem der Tempel abgebrannt war, haben die umliegenden Dörfer viele Steine mitgenommen und für ihre Häuser verwendet. Zum Glück habe ich aber eine Beschreibung des Tempels in dem Buch der Schlange von Helion von Sagenstein eine Beschreibung gefunden. Er war früher in dem Tempel und erinnerte sich an verschiedene Baustile, sehr interessant fand ich auch…“
Antonius tiefe Stimme unterbrach sie nach einigen Schritten. „Suchen wir vielleicht eine Falltür? Hier geht es zumindest runter.“
Lissa stieß laut die restliche Luft aus. Er hatte ihr überhaupt nicht zugehört. Nach einem Blick auf die Beschreibung des Tempels und der Falltür nickte sie. „Ja, das ist die richtige Falltür. Direkt unter der Küche und eingelassen in festem Felsgestein. Aber wie hast du sie so schnell gefunden?“
Antonius deutete auf eine deutliche Spur aus aufgewirbelten Laub. „Es war schon jemand vor uns hier und die Falltür ist vor kurzer Zeit mal geöffnet worden.“
Lissa strich über ihr Amulett: „Ich hoffe, dass wir nicht umsonst gekommen sind. Es wäre eine Schande, wenn Hesindes Löffel uns vor der Nase weggeschnappt worden wäre! Lass uns keine Zeit verlieren.“ Sie klappte das Buch wieder zu und machte sich daran, ihre Öllampe zu bergen und zu entfachen. Bald tanzte eine kleine Flamme hinter sicherem Glas. Mitsamt ihren Aufzeichnungen stiegen beide durch die Falltür hinab. Es roch alt und modrig. Die Stufen waren mit Moos und vielen kleinen Wurzeln überwachsen, sodass sie nur sehr langsam und vorsichtig voran kamen, um nicht auszurutschen.
„Wenn ich mich nicht irre, müssten wir hier in den Vorratsraum kommen. Sieh nur, das Feuer hat an dieser Stelle sogar den Stein springen lassen. Oh, pass auf, hier ist es überall feucht“, erklärte Lissa, während sie aufmerksam ihre Umgebung beobachtete.
„Sieh mal, da scheint es jemand sehr eilig gehabt zu haben, hier heraus zu kommen. Das sind mal große Schritte.“ Antonius kniete sich herunter und bemerkte dann: „Es scheinen keine menschlichen Füße gewesen zu sein. Für mich sieht das eher nach Krallen aus.“
Lissa dachte nach: „Was auch immer es war, ein wildes Tier scheidet aus, das hätte die Klappe weder geöffnet, noch verschlossen. Wir sollten vorsichtig sein und hoffen, dass es nicht wieder kommt.“
Antonius lockerte sein Schwert etwas und erklärte auf Lissas fragenden Blick: „Reine Vorsichtsmaßnahme, die Decke hier ist so niedrig, dass es mir schwer fallen wird, richtig zu kämpfen.“
Sie sahen sich eingehend um. Die hölzernen Tische gaben anscheinend einen wunderbaren Nährboden für Pilze und Schimmel ab. Ein paar Schubladen waren anscheinend frisch heraus gebrochen worden, aber das einfache Geschirr lag achtlos herum. Auch die Schränke waren, wenn überhaupt noch intakt, durchwühlt worden. [Aber] All die verschimmelten Vorräte und Utensilien konnten niemanden mehr nützen.
„Wenn ich es richtig sehe, war dort vorne der Weinkeller, aber der ist schon damals dank einigen Flaschen Premer Feuer direkt bei dem Brand aufgegeben worden. Es lohnt nicht, den wieder frei zu graben, auch wenn der Besucher es anscheinend versucht hat.“
Sie drehte sich mit dem Buch um die eigene Achse und deutete auf einen weiteren Gang.
„Dort geht es zu einigen weiteren Lagerräumen und Zellen, aber meine eigentliche Vermutung steht hier: …, die Türe beschlagen mit hartem Eisen sollte jedem den Zugang verwehren, zu dem Artefakt, das Weise macht. Niemande soll von der Machte schöpfen, der nicht zuvor wurd vorgelassen. So ist es sicher verwahrt durch dicke Tür und magisch Macht, die niemand kennt und immer wacht.’“ Lissa hatte sich mittlerweile zum westlichen Gang gedreht.
„Konnten die damals nicht richtig schreiben? Zuletzt klang es ja fast wie ein Reim und davor wie eine Sage“, beschwerte Antonius sich.
Lissa lächelte im Dunkeln. „Helion hielt sich für einen großen Schriftsteller und Poeten, dessen Zeit einfach noch nicht gekommen war. Leider hat die Zeit ihn geholt, während er versuchte, eine Gruppe Goblins mit seiner Kunst zu beschwichtigen, eine sehr tragische Geschichte, die ich auf einem extra beigefügten Blatt lesen durfte.“
„Ganz schön erbärmlich für einen Helden“, kommentierte Antonius trocken. „Ausgerechnet von ein paar kleinen Rotpelzen.“
„Sagen wir, er hatte andere Talente. Zum Beispiel kannte er alle möglichen Baustile und konnte fließend in... warte doch!“ Lissa beeilte sich hinter Antonius her zu kommen, der bereits in dem schmalen Durchgang stand.
Auch hier war der Eindringling gewesen. Die Tür lag morsch und zerstört auf dem Boden und Lissa ließ die Hoffnung sinken. „Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn ausgerechnet ich dies mächtige Artefakt wieder finden würde.“
Hinter ihr zwängte Antonius sich durch den schmalen Durchgang. „Ich weiß nicht, ein Löffel ist ein Löffel“, brummte er.
Die Hesindegeweihte durchleuchtete den Raum. Es war eine kleine Kammer. Einige Bildnisse mochten früher schön und teuer gewesen sein, aber davon war nicht mehr viel zu sehen. Der Modergeruch überlagerte das Szenario des Verfalls, in dem eine Betbank und diverse gesprungene Steine von dem früheren Feuer über dem Raum zeugten. Gegenüber dem Gang hingen die Stoffreste eines einst schweren und teuren Vorhangs. Dahinter glitzerte verführerisch silbrig ein Gegenstand, bei dem Lissa neuen Mut schöpfte. Vielleicht war ihre Suche doch nicht vergebens! Sie hielt die Lampe vor sich und sah sich noch einmal um für den Fall, dass das Wesen noch im Raum war und wartete, aber außer ihren flackernden Schatten und Antonius rührte sich nichts.
Langsam traute sie sich ihrer Hoffnung nachzugeben. „Oh bei Hesinde, bitte enttäusche mich nicht. Wenn es der Löffel ist, den ich suche, werde ich ihn zu deinem Tempeln bringen.“
Vorsichtig, in der Angst, dass eine falsche Bewegung den Gegenstand zerfallen lassen könnte, ging sie weiter. Tatsächlich lag dort ein silbriger Löffel, verschont von der Zeit, die dem Podest durchaus zugesetzt hatte. Das Metall war schön gearbeitet und zeigte eine blühende Landschaft, die zum Ende des Stiels hin in einen grünlichen Jadekristall über ging. Daraus geformt war eine Schlange, das Symboltier der Hesinde, dessen Augen Lissa aufmunternd anzublitzen schienen. Ihre Hand passierte die Vorhang Reste und sie machte den letzten Schritt.
Zunächst fühlte es sich wie ein Kribbeln an, doch schnell bemerkte sie, dass Hesinde ihre schützende Hand von ihr genommen haben musste. Die Göttin entfernte sich von ihr. „Nein! Warum? Was habe ich getan?“ Lissa drehte sich, ließ den Löffel zurück. Ihr Fuß hatte sich in dem heruntergefallenen Vorhang verfangen und zerrte ihn mit, als ihr die Luft zum atmen zu eng wurde. Nie, nie wollte sie von Hesinde verlassen sein! „Verlass mich nicht, Hesinde! Ich bin deine treue Dienerin!“ Im nächsten Moment war sie sich nicht mehr sicher, ob schon die Namenlosen Tage angebrochen waren. Eine grausige Furcht kam in ihr hoch, als sie die Präsenz des Dreizehnten bei sich zu spüren glaubte.
Ein starker Arm hielt sie zurück, doch sie schlug danach und befreite sich von ihm, ebenso wie von dem Vorhang an ihrem Fuß. „Hesinde! Ich werde dir immer treu sein! Komm zurück, bitte! Lass mich nicht zurück beim Namenlosen!“
Ein Schrei neben ihr, ließ sie erneut herumfahren, ehe sie hinausstürmen konnte. Antonius drückte sich mit dem Rücken zur Wand und wich angsterfüllt wieder davon zurück.
„Bleib in meinem Rücken, pass auf, dass keiner von hinten kommt!“, schrie er und drehte sich noch einmal. „Kämpf fair du dreckige Ratte!“
Lissa sah sich um, konnte aber niemanden erkennen. Der Raum war leer. Sie war von Hesinde verlassen und der Namenlose drohte jeden Moment in sie zu dringen. Sie glaubte seine faule Anwesenheit zu spüren. Lissa fasste sich an den Kopf, der unbändig schmerzte, während Antonius in ihrem Rücken aufgebracht hin und her ruckte, überall einen Angreifer witternd.
„Nein, Hesinde kann mich nicht so einfach verlassen haben. Es gibt keinen Grund, keinen… Warte, da war doch was.“ Sie nahm das Buch von Helios erneut hervor und las dann laut: „So ist es sicher verwahrt durch dicke Tür und magisch Macht, die niemand kennt und immer wacht.“ Ihre Gedanken überschlugen sich. „Keine magische Macht kann meine Verbindung zu Hesinde trennen, dafür gibt es keinen Zauber, sie ist also noch bei mir. Aber was für ein Zauber kann mir das Gefühl geben?“
„Komm endlich heraus!“, brüllte Antonius und zog schließlich sein Schwert, stürmte an Lissa vorbei und auf die Betbank zu, die sich kurz darauf in einen Regen aus gesplittertem Holz auflöste. In einer geschmeidigen Bewegung setzte Antonius seinen tödlichen Tanz fort, der das Schwert nicht zur Ruhe kommen ließ und nach und nach mehrere der alten Gegenstände in Kleinholz verwandelte. Immer wieder stoben auch Funken von der Decke und den Steinwänden.
„Warte, natürlich! Eine Illusion, die uns unsere Ängste vor Augen führt! Ein Horriphobus wacht ohne zu schlafen, aber wo? Ich habe nichts berührt, als ich zum Löffel griff.“
Ihr Blick wanderte zum Podest, der noch nicht in Fetzen lag, es war alles unberührt dort, einzig der heruntergefallene Vorhang, der sich an sie gewickelt hatte, lag nun in ihrer Nähe.
„Das ist es! Antonius! Beruhig dich, lass bitte den Bettpfosten in Ruhe. Hier ist kein Feind, es war ein Zauber“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
„Ein feindlicher Zauberer? Was für ein hinterhältiger, verdammter…“
„Nein! Ein Zauber! Er hat dir deine größte Angst gezeigt, aber sie ist nicht real! In dem Vorhang war ein Zauber, der dir deine schlimmsten Alpträume zeigt. Hier ist niemand, der dich angreift.“
Antonius ging vorsichtig und prüfend zu dem Vorhang. „Bleib in meinem Rücken, man kann nie wissen…“
„Schieb es einfach mit dem Schwert zur Seite, dann sollte es uns nicht mehr stören“, befahl Lissa sanft und Antonius gehorchte. Langsam gewannen beide ihre Fassung wieder.
„Ganz schön effektiv und gemein. Ich hätte es wissen müssen. Der letzte Tempelvorsteher war ein Magier, natürlich hat er das letzte wichtige Artefakt geschützt. Aber jetzt sollten wir es ohne Probleme mitnehmen können.“
Sie ging wieder näher an den schön gearbeiteten Löffel und fasste vorsichtig an den Vorhang vorbei, jederzeit bereit eine Illusion oder eine andere Falle auszuweichen, oder zu bekämpfen. Aber nichts passierte. Ihre Finger schlossen sich um das kühle Metall und der Jadestiel funkelte fröhlich vor sich hin.
„Und das kleine Ding soll große Macht besitzen?“, fragte Antonius ungläubig.
„Es scheint zu der Beschreibung zu passen. Wenn du mir ein wenig Zeit gibst, kann ich versuchen das heraus zu finden.“
Damit setzte sie sich mit dem Löffel hin und begann sich auf den Gegenstand einzulassen. Ihr Geist begann die Fühler auszustrecken und im Vertrauen auf Hesindes Hilfe spürte sie endlich eine Antwort. Sie öffnete die Augen und sah Madas Welt. Hinter dem Podest leuchtete irgendetwas schwach, aber sie konzentrierte sich auf den kleinen Gegenstand. Der Löffel schimmerte in einem silbrigen Glanz voll Magie. Neugierig sah sie genauer hin, aber die Signatur war nicht ganz deutlich, als lägen mehrere arkane Fäden übereinander. Es blieb ihr nur eine Wahl, sie musste sich wohl darauf verlassen, sich Hesinde als würdig zu erweisen.
Mit einer vorsichtigen Bewegung führte sie den gleißenden Löffel an ihre Lippen und trank.
Besser, sie versuchte es, aber der Löffel der Hesinde war leer. Dann traf sie die Erkenntnis mit der Macht einer Trollfaust!
Es trieb ihr die Luft aus der Lunge und die Tränen in die Augen, als sie zu lachen anfing. Völlig perplex stand Antonius daneben und wusste nicht, was bei einer völlig ausgelassenen Hesindegeweihten zu tun war. Schließlich fasste er sich ein Herz und nahm der immer noch vor Tränen lachenden Lissa den Löffel ab. Er legte ihn zur Seite und hielt sie fest. „Verdammte Artefakte, man kann sich wirklich nie sicher sein, woran man gerät“, brummte er, während Lissa sich langsam wieder fing.
„Und da sag noch einer, Hesinde verstehe keinen Spaß!“, rief sie noch immer lachend aus.
„Das muss ich sehen, warte mal.“
Sie wollte wieder nach dem Löffel greifen, aber Antonius war schneller. „Erst erzählst du mir, was das grad war, verstanden?“
„Ich habe doch nur gelacht, was soll daran schlimm sein?“, fragte Lissa grinsend.
„Es klang, als würdest du daran ersticken“, erklärte der Ritter ernst.
„Nein, keine Sorge. Aber ich muss mir den Löffel noch einmal ansehen. Wenn dieser Löffel tatsächlich der von Hesinde ist und die Erleuchtung bringt, die ich gerade hatte, kann ich mir die Gesichter nicht entgehen lassen!“ Ohne auf Antonius zu achten, schnappte sie sich schnell den Löffel und ließ sich erneut auf ihn ein. Diesmal bat sie Hesinde jedoch darum, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dorthin, wo der Löffel noch benutzt worden war. Sie fühlte ihren Geist in alte Vorstellungen gezogen. Wie im Traum sah sie sich immer tiefer in die Vergangenheit eintauchen, erkannte jemanden, der den Löffel hinter einen schweren Vorhang legte und den Horriphobus darüber legte, aber sie bat darum, noch weiter zurück zu kehren.
Tatsächlich gewährte Hesinde ihr diesen Wunsch und Lissa tauchte weiter in die Vergangenheit ein, soweit sie es vermochte.
Viel zu weit. Sie sah, wie das Schmuckstück von einem Schmied an einem ihr unbekannten Mann gegeben wurde. Dieser musste ebenfalls ein Hesindegeweihter sein, das verriet seine grüne Robe mit der gelben Schlange. Er nahm den Löffel dankend und ging damit zu einem kleinen Kloster, das auf einem frischen Erdwall stand, direkt vor einem Felsen. Sie folgte dem Mann in den Keller, genau in dem Raum, in dem sie sich gerade befanden.
Lissa musste zweimal hin schauen, sonst hätte sie es nicht geglaubt. Der Mann steckte das Kristallende in eine Kerbe im Fels. Ein Klicken ertönte und es schwang eine gut versteckte, steinerne Tür auf, durch die er verschwand. Gern wäre Lissa der Gestalt weiter gefolgt, hätte wissen wollen, was dahinter lag, aber hier spürte sie Hesindes Zustimmung schwinden. Sie sollte an dieser Stelle nicht weiter sehen, was dort geschah. Langsam, unendlich langsam ließ Lissa sich von der Szene wegtreiben. Sie verschwamm vor ihren Augen und spürte den realen Löffel wieder. Ihre Finger fühlten sich kalt an, ebenso die Beine.
„Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, klang die tiefe Stimme von Antonius zu ihr. „Ich denke, wenn wir hier alles erledigt haben, sollten wir langsam gehen. Wir müssen die Tiere versorgen. Erst Recht, wenn tatsächlich ein Angreifer in der Nähe ist.“
Lissa schlug die Augen wieder auf und verarbeitete erst das Gesagte, ehe sie den Kopf schüttelte. „Das war doch nur eine Illusion, ein Zauber, der deine Ängste…“
„Diese Spuren sind real und keine Illusion“, erklärte der Ritter und deutete auf die tiefen Krallenspuren an dem Durchgang. „Besser wir verschwinden bald, wir haben was wir wollten, oder?“
Lissa stand auf und ihre Beine prickelten unangenehm. Wie lange sie wohl gesessen hatte? Sie wusste es nicht, aber mit dem Schmerz von tausenden Nadelstichen, begannen ihre Beine wieder ihren Dienst aufzunehmen. „Ich gehe davon aus, dass es der Echte ist. Eine Sache muss ich aber noch prüfen.“
Sie konnte deutlich ihre Aufregung spüren, als sie an der Rückwand des Raumes tatsächlich einen Spalt fand. Vorsichtig schob sie den Stiel des Löffels mit der kristallenen Eidechse voran in das Loch.
Nichts passierte. „Mist! Der Mechanismus muss wohl außer Kraft gesetzt worden sein. Oder die arkane Struktur.“ Sie wollte gerade den Löffel wieder herausziehen, als sie den schwachen Lichtschimmer entdeckte.
„Na schau mal an“, kommentierte sie sich selbst und winkte Antonius zu sich. „Vielleicht finden wir hier den Grund, was der Besucher vor uns gesucht hatte.“ Sie drückte etwas an dem Stein, der sich überraschend leicht in den Raum bewegen ließ und damit den Weg zu einer weitläufigen Grotte frei gab. In regelmäßigen Abstanden waren blau schimmernde Gwen-Petryl Steine angebracht, die jedem Efferdtempel einiges an Talern wert wären und tauchten die natürliche Höhle in ein mystisches Licht. In der Ferne hallten einzelne Tropfen, die von den vielen kleinen Stalaktiten herunter rannen.
„Schöne Höhle“, kommentierte Antonius trocken, aber Lissa spürte eine gewisse Ehrfurcht, die auch sie ergriff.
„Sieh dir das an! Diese Zeichen sind nicht von Menschen gemacht, das ist Rssah, die Echsensprache!“, erklärte die Hesindegeweihte staunend.
„Dann nehme ich an, dass hier ist ein Altar von diesen… Echsen“, sagte Antonius und sah sich einen länglichen Block an, der halb hinter einer Reihe Stalagmiten verborgen lag. Lissa meinte eine gewisse Unsicherheit zu erkennen und erklärte: „Die Kultur der Achaz war in einem früheren Zeitalter vorherrschend, Relikte lassen sich fast überall finden und auch wenn ihre Blüte wohl vorbei ist, gibt es noch genug von ihnen in Aventurien. Wenn du die Zeit hast, solltest du unbedingt mal in den Süden gehen, dort gibt es sogar noch ganze Stämme und…“
„Ist das nun ein Altar, oder nicht?“, unterbrach der Ritter ihren Redeschwall und untersuchte das Gebilde selbst.
Lissa resignierte: „Ja, das ist ein Altar. Vielleicht kann ich herausfinden, welcher Gottheit – Wo willst du hin?“
Antonius hielt inne und drehte sich im Gehen wieder zu ihr um. „Ich hole einen Hammer. Immerhin müssen die Bildnisse von falschen Göttern zerschlagen werden.“
„Das wirst du schön bleiben lassen!“, rief Lissa entrüstet. Wenn sie etwas aufregte, dann eine so blinde Zerstörung. „Weißt du denn nicht, dass einige der Zwölfe schon von den Achaz verehrt wurden, wenn auch in anderer Form? Bleib hier und schau dir das an. Dies Zeichen da dürfte Hesinde darstellen.“ Sie deutete auf ein halb im Stalagmiten versunkenes Relief und winkte Antonius noch näher heran. „Wenn ich mich recht entsinne, dürfte das Zeichen daneben für eine Form von Ingerimm stehen. Willst du etwa die Zwölfe erzürnen?“
Antonius sah sich das ganze immer noch fragend an. „Mir gefällt das nicht. Warum ist eine Kultstätte der Achaz direkt hinter dem Tempel?“
Die Geweihte spielte mit ihrem Halsreif und überlegte. „Genaueres kann ich dir da auch nicht sagen. Noch nicht. Ich brauche etwas Ruhe, damit ich mir das genauer ansehen kann. Aber dafür reichen unsere Vorräte noch nicht.“ Sie stemmte sich wieder hoch und strich ihre langen, blonden Haare nach hinten, auf denen durch die leuchtenden Steine ein blauer Schimmer lag. Dabei bemerkte sie ein rötliches Blitzen, das von einem Rubin stammte. Neugierig brach sie ihn aus seiner Einfassung aus Kalk an einem Stalagmiten.
„Ach, aber du darfst hier alles kaputt machen?“, fragte Antonius mit hochgezogener Braue.
„Dieser Kristall muss früher lose herumgelegen haben, sonst wäre er viel weiter im Stalagmiten eingeschlossen gewesen. Die Achaz zauberten mit Kristallen. Ob dieser hier verzaubert ist, weiß ich aber noch nicht.“ Lissa hielt ihn in Richtung des leuchtenden Gwen Petryl Steins bei dem Altar, konnte aber nichts erkennen. „Ich fürchte, ohne das Auge Madas werde ich nicht mehr viel herausfinden können. Wir sollten gehen. Ich sollte mit einer Hilfe und Vorräten für eine Woche wieder kommen. Außerdem brauche ich noch einige Grabungsgeräte, falls sich hier mehr finden lässt und mehr Licht. Wer weiß, wie weit die Grotte reicht und was sich noch verbirgt?“
Antonius nickte nur und entschied sich, nichts weiter dazu zu sagen. Sie verließen die geheimnisvolle Grotte und schlossen die Tür hinter sich wieder. Als sie mit dem Licht den Raum mit dem Podest hinter sich ließen, zog Antonius den Vorhang mit dem Horriphobus vor dem Durchgang. „Wer auch immer hier gewesen sein mag, sollte hier nichts finden und auch nicht groß suchen wollen“, kommentierte er.
„Wenn es tatsächlich ein Achaz war, würde ich nur zu gern wissen, ob er von dieser Grotte wusste und wo er her kam. Was er wohl wollte? Er muss einen ziemlich weiten Weg dafür gegangen sein, nur um dann einem Horriphobus zu erliegen.“ Sie grübelte weiter, während beide ihr Lager abbauten und die Reittiere bereit machten.
„Wenn er wieder kommt, solltest du ihn fragen“, warf Antonius abwesend ein. „Ich weiß nicht, auch wenn ich nie eine gesehen habe, gefallen mir diese Echsen nicht. Elfen sind ja schon seltsam genug, da brauche ich nicht auch noch aufrecht gehende Reptilien.“ Er schwang sich auf seinen Sattel, ebenso wie Lissa.
„Ich kenne selbst nicht viele, aber sie scheinen mir weder besser, noch schlechter als Menschen, zumindest aus einer wissenschaftlichen Sicht betrachtet.“
„Mordbuben gibt es auf jeder Seite, ich verstehe schon“, winkte Antonius ab. „Lasst uns zurück reiten, mir schwirrt schon der Kopf von so vielen neuen Informationen.“
„Wenn es sich so anfühlt, wie ein Muskelkater im Hirn, machst du alles richtig.“

Am Abend kampierten sie wieder auf einer Lichtung. Die Zelte waren schnell aufgestellt und ein gutes Essen vorbereitet.
Lange grübelte Lissa, wie sie das Thema ansprechen sollte. Der Vorfall in der vergangenen Nacht war ihr immer noch peinlich. „Mir wäre es recht, wenn ich diese Nacht eine etwas… kürzere Leine hätte, wenn du verstehst.“
Der Ritter nickte: „Natürlich, auch wenn ich nichts, gegen deine Gesellschaft habe.“
Lissa schluckte ihre Antwort herunter. Sie wollte jetzt keine wilde Rahjanacht mit ihm verbringen.
Sie grübelte noch lange, während sie alle wichtigen Entdeckungen in ihrem Buch fest hielt.
Schließlich wurde es aber so spät, dass sie sich hinlegten. Antonius legte das Seil wieder schmerzhaft fest um ihren Körper und band das andere Ende um einen dicken Baum.
„Das wird leider nicht bis in mein Zelt reichen.“
War das ein Lächeln in seinem Gesicht? Lissa starrte ihn an und kam sich dumm vor. Sie hatte keine Ahnung, was sie von ihm nur halten sollte, also ignorierte sie ihn erstmal. Vielleicht würde sie ihn eh nicht wieder sehen, sobald sie in Urbasi Hilfe bekommen hatte und neue Ausrüstung. Gylduria hatte ihn nur mitgeschickt, damit er ihr nicht im Weg war bei diesem Treffen mit den Silbertalern. Für sie war es wohl fast so etwas, wie ein netter kleiner Ausflug.
Lissa presste die Lippen zusammen. „Was mache ich mir überhaupt vor?“
Antonius sah sie verwirrt an. Sie verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln und erklärte: „Ist schon in Ordnung, gute Nacht und mögen eure Träume ruhiger sein, als meine.“
Der Ritter lächelte nur und verzog sich unter seine Plane. Auch Lissa viel es nicht schwer nach diesem Tag in den Schlaf zu fallen.
Unklar träumte sie davon, ihr Arbeitsmesser in der Hand zu haben. Wie aus einer Distanz und den Augen einer anderen Person verschwamm die Szene und sie fand sich vor einem Knoten an einem Baum wieder, den sie geschickt öffnete. Wieder verschwamm ihr Blick und sie spürte weichen Boden unter ihren Füßen. Dann strichen ihre Finger über hartes Muskelfleisch. Sie wusste, was das bedeutete. Innerlich wollte sie schreien, aber es half nichts und bald gab sie es auf. Auch weil sie mehr sehen wollte, wenn sie schon mal da war. Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen, solange sie schlief. Ihre Finger tasteten unter den Leinenstoff und strichen über die vernarbte Haut, bis hinunter zu seinen Beinen. Sie glitten durch sein Haar und flochten ihm einen Zopf.
Dann, ganz unvermittelt, meinte sie ihre Tinte zur Hand zu haben. Ihre Hände agierten ganz von allein, als sie einen Finger hinein tauchte und über das harte Gesicht mit der Tinte strich. Das war so kindisch, warum machte sie das? Bei Phex, was sollte das?
Endlich merkte sie, dass sie wieder in ihr Zelt ging und atmete erleichtert auf.
Das nächste, was sie hörte, war der Schrei von Antonius. Sofort war sie hellwach und schon halb aus dem Zelt, ehe sie sich an ihren Traum erinnerte. Die niedrige Plane von Antonius war zusammengefallen und er wand sich darin, im Versuch sich zu befreien.
Ohne es zu wollen schmunzelte sie, aber dann erinnerte sie sich an den Rest ihres Traums. Schnell warf sie sich etwas über und lief zu dem Ritter, um ihn aus der misslichen Lage zu befreien.
Als sie sein rotes Gesicht mit den bemalten Augenbrauen sah, konnte sie aber nicht mehr an sich halten und lachte laut los. Es war so übertrieben und sah so dämlich auf dem eher ernsten Gesicht aus. Das linke Auge war wie von Kinderhand mit einer Sonne bemalt, das rechte wies die Form eines Schmetterlings auf. Dazu waren die Augenbrauen so stark nachgezogen und zu den Geheimratsecken gezogen, dass es halb diabolisch und halb närrisch aussah. Unter der Nase hatte sie mit Tinte einen mächtigen Zwergenbart gezogen, der einfach perfekt zu den Flüchen des Ritters passte.
Sie konnte sich erst wieder einkriegen, als sie die kräftige Hand des Ritters an ihrer Schulter bemerkte. „Na schönen Dank auch. Ich kann mir schöneres vorstellen, als aufzuwachen und das Zelt einstürzen zu sehen.“
Lissa wischte sich eine Träne aus ihren Augenwinkeln. „Bitte entschuldige, aber das sah zu komisch aus. Leider scheint dein Knoten nicht gehalten zu haben.“ Entschuldigend deutete sie auf das durchgeschnittene Ende. „Ich kann wirklich nichts dafür, dass ich nachts so was mache… und vielleicht sollte ich dir sagen, dass dein Gesicht etwas, naja, farbig ist.“
Grummelnd zog sich der große Ritter mit dem Tintengesicht zurück und begann sein Gesicht zu waschen, aber die Tinte erwies sich als recht zäh.
„Dabei fällt mir ein, ich habe sonst nie sehen können, was ich überhaupt tat. Aber diese Nacht war es anders. Warum konnte ich das alles nur verschwommen sehen?“ Gedankenverloren suchte sie nach ihrem Buch der Schlange, um diese Erinnerung festzuhalten. Dabei sah sie auch, dass sie auf dem Rubin geschlafen hatte. „Ob das wohl was mit dir zu tun hat?“, fragte sie den Rubin.
„Ich bin sicherlich nicht schuld an deinen Träumen“, brummte Antonius hinter ihr und forderte sie auf: „Hilf mir mal, ich bekomme die Tinte nicht runter.“
„Da kann ich dir leider nicht helfen. Ich habe nichts dabei, um die Tinte wegzuwischen. Das können wir wohl erst in Urbasi machen, oder wenn wir hilfreiche Leute auf dem Weg treffen.“
„Ich soll so herumlaufen?“, brachte Antonius erst ungläubig, dann wütend hervor. „Wisst ihr, wie peinlich das ist? Ich habe mich vorhin in meiner Rüstung gesehen!“
Lissa winkte ab. „Das wird euch schon nicht umbringen, außerdem nehme ich jede Schuld auf mich, ehrlich!“
„Ich sollte mir einen Sack über den Kopf werfen, oder Bandagen.“ Er warf verzweifelt die Arme hoch, hielt dann aber inne. Bei der Idee rieb Antonius sich glatt das Kinn und verschmierte die Tinte noch ein bisschen. „Wir könnten von einem Kampf erzählen, bei dem ich heldenhaft verwundet wurde.“
Lissa lächelte breit: „Ohja, der Kampf gegen das Tintenmonster.“
Antonius schloss nur kurz die Augen, um sich zu beruhigen. „Nein, ein Kampf gegen einen dieser Achaz. Zumindest war einer da und vielleicht hat er auch die umliegenden Dörfler beunruhigt.“
„Das gefällt mir gar nicht. Wir wissen nicht, ob er feindlich ist, oder nicht. Ich will da niemanden falsch verdächtigen, aber nach ihm fragen könnte durchaus weiter helfen.“
Schließlich ließ sich Lissa überreden, dem Ritter ein paar einfache Bandagen umzuhängen. Vorsorglich trug er aber auch noch den Helm dazu. Das war natürlich ungewöhnlich, aber besser, als immer auf die Bandagen angesprochen zu werden.

Sie kamen gut voran und kampierten auf Wunsch von Antonius etwas abseits des Weges. Auch schlugen sie zu Lissas Bedauern alle Essenseinladungen aus. Der Ritter wollte wirklich sicher gehen, nicht entdeckt zu werden. Von großen Echsenwesen hatte aber keiner der Leute etwas gesehen oder gehört. Das beruhigte Lissa etwas. Achaz neigten dazu, die einfache Landbevölkerung schnell in Aufruhr zu versetzen, allein durch ihre Gestalt.
Im Lager befreite Antonius sich von Helm und Bandagen. Sein Gesicht sah schon wieder ganz anders aus, da sein Schweiß die Tinte gelöst und neu verteilt hatte. Jetzt sah es aus, wie ein sehr seltsames Tattoo, oder eine bedenkliche Hautkrankheit, während die Bandagen natürlich blau waren.
In dieser Nacht verzichtete Antonius darauf Lissa festzubinden. „Das hat keinen Zweck, ich müsste dich schon fesseln. Am besten wäre es, wenn ich gar nicht einschlafe.“
Lissa schlug reumütig die Augen nieder. „Es tut mir Leid, wirklich! Aber ich kann nichts dafür! Du hättest mal dabei sein sollen, als ich im Hesindetempel gewandelt bin. Einmal bin ich aufgewacht und hatte anscheinend versucht mir irgendetwas zu schmieden. Ein anderes Mal war ich mit einem Korb voll Äpfel auf halbem Weg zum Bauernhof aufgewacht… und einmal im Bett eines Schönlings, der die Situation glatt ausgenutzt hat.“ Bei den letzten Worten schaute sie beschämt zu Boden. „Zumindest glaube ich das, er hat mir bei allen Zwölfen geschworen, stark geblieben zu sein.“
Der Ritter ließ die angestaute Luft langsam entweichen. „Es muss auch für euch eine ziemliche Bürde sein, vor allem, wenn ihr euch an nichts davon erinnern könnt.“
„Ohja, ich hatte gehofft, dass ich durch den Löffel mehr darüber erfahre. Mir ist das Buch mit den Aufzeichnungen von Helios beim Schlafwandeln ‚in die Hände gefallen’.“
Antonius schaute sie verdutzt an: „Selbst im Schlaf noch am Lesen? Bibliotheken sind wohl wirklich nicht gesund auf Dauer.“
Lissa nickte nur. „Ich zieh mich zurück. Wenn ich morgen früh nicht da bin, wartet einfach kurz. Ich bin selten weit weg von meiner Bettstatt.“
Die Hesindegeweihte legte sich hin und besah sich noch einmal den rot funkelnden Rubin. Wenn sie sich wieder an so viel erinnern würde, musste irgendeine magische Kraft in ihm wohnen. Aber das Studium musste warten, bis sie ein paar Stunden in einem ruhigen Zimmer hatte.
Wieder merkte sie, wie sie aufstand. Die Distanz zu ihrem Körper war schier unüberwindlich, wie durch ein verschwommenes Glas, konnte sie erkennen, wie sie halb nackt ihren Stab nahm. Draußen schaute sie kurz hoch in die sternenklare Nacht, dann zum Feuer. Antonius saß noch immer an der Glut, regte sich aber nicht.
Sie konnte sehen, dass sie zum Rand des Lagers ging und dann ihren Stab hob. Mit einem kräftigen Schlag gegen eine junge Birke begann ein tanzender Bewegungsablauf, den sie bei einer Reise von einem Rondrageweihten gelernt hatte. Immer wieder hieb sie auf den frischen Baum ein und bremste kurz vor der Rinde, nur um in einer schnellen Wende wieder zuzuschlagen. Nach und nach fühlte sie den Schweiß an sich herunter rinnen, von der vielen Übung. Sie war nicht fehlerfrei, aber besser, als sie es vermutet hätte.
Plötzlich drehte sie sich mit einem Ausfallschritt und fing einen eher laschen Hieb von Antonius ab. „Was soll das?“, wollte sie erstaunt fragen, aber nichts drang nach außen. Wollte der Ritter am Ende den Löffel stehlen? Oder den Rubin? Hatte er nur so nett getan? Langsam stieg Angst in Lissa auf, dieser Mann hätte wenig Probleme sie im Schlaf umzubringen.
Der Tanz ging weiter, diesmal mit Antonius. Immer wieder folgte Attacke auf Parade, Konter auf Gegenschlag und Finte auf Wuchtschlag. Lissa hatte nie viel kämpfen müssen und daher war sie sicher, dass sie im wachen Zustand sich niemals so gut gehalten hätte. Antonius schien der Kampf zu gefallen. Er lächelte und zog das Tempo an, wurde schneller und zielte mit kräftigeren Schlägen auf sie.
Die Geweihte schrie innerlich auf und konnte gar nicht verstehen, worauf das hinauslaufen sollte. würde Antonius sie jetzt zerstückeln? Aber warum? Wegen dem Löffel wohl kaum.
Plötzlich schnellte Lissas Körper mit ungeahnter Gewandtheit zur Seite aus und traf Antonius mit einem schnellen Hieb. Gleichzeitig spürte sie kühles Metall auf ihrem Oberarm. Beide hatten rechtzeitig gestoppt, ehe es ernsthafte Verletzungen gab, aber ein blauer Fleck würde wohl bleiben.
Lissa verneigte sich tief und begab sich wieder in ihr Zelt, wo sie erst am morgen, zwar schweißgebadet, aber unversehrt aufwachte.
Sie schwieg, bis sie in die Stadt Urbasi einritten. Dann schaute sie zu dem Ritter auf und fragte: „Wie ernst war dir der Kampf gestern Nacht?“
Antonius sah sie durchdringend durch seinen Helm an. „Ich war hauptsächlich neugierig. Du hast mich überrascht, ich hätte nicht gedacht in dir eine so ebenbürtige Gegnerin zu finden. Die Technik war gut, aber du solltest an Kraft zulegen und genauer zielen.“
Lissa lief wegen des Lobs rot an. Im Kampf war sie nicht wirklich geübt und das kam von einem echten Ritter.
„Dabei fällt mir auf: Warum kannst du dich an den Kampf erinnern?“
Erschrocken zuckte Lissa kurz zusammen. Der Rubin wog schwer in ihrer Tasche. Sie spielte an ihrem schlangenförmigen Halsband, während sie antwortete: „Ich weiß es nicht genau, es war im Traum, als ob ich reine Zuschauerin war. Ich konnte nichts nach meinem Willen bewegen.“
Antonius wollte sich ans Kinn fassen, aber da war sein Helm im Weg. „Und dennoch hast du rondrianisch gekämpft, fast wie eine Löwin. Das ist interessant. In der Nacht davor war es ein Streich, der an Phex erinnern würde und in der ersten Nacht war es wohl Rahja, die dich geleitet hat.“
Lissa nickte. „Mir ist auch schon aufgefallen, dass es irgendwie mit den Dr- Zwölfen zu tun hat. Ich weiß wirklich nicht, warum. Wie gesagt, ich hatte gehofft, dass der Löffel mir eine Antwort geben könnte.“
Antonius stutzte zwar kurz bei dem Versprecher, aber dann nickte er nur. Er schien es auch nicht besser zu wissen, oder dachte wieder an ihren Kampf zurück.

„Nun?“
Irgendwie hatte Lissa sich mehr erhofft, als das kühle Auftreten von Gylduria, die mit gefalteten Händen und starrer Mine an dem alten Tisch saß. Sie wirkte einfach distanziert, als wenn der ganze Auftrag sie eigentlich nichts anginge. Vielleicht war das ja auch so.
Die Geweihte merkte, dass sie wieder mit ihrer Halskette gespielt hatte. Sie zuckte davon weg und brachte den Löffel aus einem Tuch hervor. „Meine Suche war erfolgreich. Der Löffel der Hesinde wurde gefunden. Er verleiht tatsächlich neues Wissen an denjenigen, der ihn benutzt.“
Gyldurias Züge blieben in Stein gemeißelt, während sie den Löffel durchdringend anstarrte. Dann sah sie zu Antonius, dessen Gesicht mittlerweile wieder sauber war.
„Er ist schön gearbeitet, ja. Aber wie soll der Löffel neue Weisheit geben? Das kann ich nicht glauben.“
Lissa lächelte daraufhin nur und legte den Löffel mit dem sauberen Tuch auf den Tisch. „Nun, es spricht nichts dagegen, dass ihr ihn ausprobiert.“
Antonius schaute Lissa fragend an, die jedoch Gylduria im Blick behielt. Die alte Frau verriet Skepsis mit ihrem Blick. „Und mit diesem Löffel soll man tatsächlich Wissen erhalten können?“
Die Hesindegeweihte nickte freundlich und gespannt. „Wie gesagt, ihr könnt ihn ruhig benutzen.“
Gylduria sah sich den Löffel genau an, konnte aber nichts erkennen. Sie putzte ihn mit dem sauberen Tuch noch einmal und steckte ihn in den Mund. Für ein paar Sekunden verharrte sie so. Dann nahm sie ihn wieder heraus. „Was für ein Schwindel.“
Lissa setzte ein betroffenes Gesicht auf. „Das war kein Schwindel. Ganze Generationen von Hesindegeweihten haben von seiner Lehre profitiert. Ich habe ihn selbst versucht und bin weiser geworden! Er lehrt, dass Wissen nicht von irgendwo kommt und der reine Glaube daran reicht auch nicht, man muss es schon selbst suchen und dafür arbeiten.“
Die alte Frau sah Lissa weiter an, aber kein Lächeln verbog ihr Gesicht. „Ein philosophisches Konstrukt also. Damit ist nicht viel anzufangen. Er ist nur schön gearbeitet, aber nicht einmal verzaubert.“
Die Geweihte schüttelte den blonden Kopf. „Er ist verzaubert, nur...“, sie lief ein wenig rot an. „Also die Verzauberung, das ist ein einfacher FlimFlam, der gerade genug glüht, um in den Augen Madas im magischen Licht zu schimmern.“
Gylduria schürzte die Lippen. „Ein glühender Löffel also. Wie überaus praktisch.“
Lissa nahm den ihr dargebotenen Löffel an sich und erklärte: „Immerhin ein Kultgegenstand der Hesindekirche mit geschichtlichem Wert!“ Die Funktion als geheimer Schlüssel verschwieg sie lieber und hoffte, dass auch Antonius schwieg. Den Rubin wollte sie gar nicht erst erwähnen.
„Und dennoch“, setzte Gylduria ungeduldig fort „ein Gegenstand ohne wirklichen Nutzen. Die Reise war wohl umsonst.“
„Nicht ganz, Mutter“, schaltete sich nun Antonius ein und erntete dafür einen angesäuerten Blick von Gylduria. „Dort gibt es eine alte Kultstätte der Achzen… Achtas…“
„Achaz“, verbesserte Lissa und nickte bekräftigend, ehe sie schnell fortfuhr „Unter der Ruine befindet sich der Eingang zu einer Tempelanlage, die ich gerne näher untersuchen möchte. Es könnte ein Schlüssel zu der früheren Geschichte von Urbasi geben. Hierfür hätte ich gerne erneut eure Unterstützung.“
Gylduria wartete lange mit einer Antwort. Lissa spielte Nervös mit ihrer schlangenartigen Halskette und wünschte sich inständig, dass Antonius nichts von dem Rubin erzählte. Nachdem die Lady offenbar einige Gedanken hin und her gerollt hatte, erklärte Gylduria schließlich. „Gut, ihr sollt Unterstützung haben. Aber Antonius hat andere Aufgaben wahr zu nehmen. Zum Glück habe ich jemanden, der gerade eine Schuld abarbeiten soll. Denkt daran, den guten Einfluss des Hauses Deraccini in euren Aufzeichnungen zu erwähnen, immerhin unterstützen wir mit Freuden die Hesindekirche.“
Irgendetwas an dem Tonfall von Gylduria gefiel Lissa nicht, aber sie wagte es nicht etwas einzuwerfen.
„Sobald ihr aufbruchbereit seid, könnt ihr euren neuen Begleiter mitnehmen. Ich hoffe, ihr habt kein Problem mit einem Hexer.“
Wieder verbog ein Lächeln die ernsten Gesichtszüge und Lissa schwante nichts Gutes…
Eine kurze DSA- Geschichte.
Da mir Lissa als Protagonistin ziemlich gut gefällt schreib ich vielleicht irgendwann einmal eine weitere Geschichte mit ihr. :)
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